Gamification: Das ganze Leben ist ein Spiel

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Videospiele machen dumm, faul oder aggressiv – Vorurteile, die jeder Spieler kennt. Doch die wenigsten Menschen wissen, dass die Mechanismen der Videospiele bereits unseren Alltag beherrschen. Willkommen in der Welt der Gamification.

Von Sebastian Weber und Benedikt Plass-Fleßenkämper

REPORT | Als Videospieler seid ihr es gewöhnt: Die virtuellen Abenteuer geben euch jede Menge Quests – also Ziele – vor, die es zu erfüllen gilt. Es winken Belohnungen in Form von Achievements, Punkten, Trophäen oder sonstigen Motivationsspritzen. Über Highscore-Listen könnt ihr euch mit euren Freunden messen – was wiederum dazu motivieren soll, dass man eine Mission noch einmal spielt, eine andere Strategie ausprobiert oder, oder, oder.

Während wir Spieler dieses System verinnerlicht haben, schnell durchschauen und stets danach streben, das Quäntchen Mehraufwand in unser Hobby zu stecken, um etwa die 100-Prozent-Marke in GTA 5 zu knacken, belächeln Außenstehende dieses Verhalten nur allzu oft. Was sie dabei aber meist nicht wissen: Auch sie unterwerfen sich in ihrem Alltag bereitwillig solchen Mechanismen.

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Immer dabei: Dank Smartphones und sozialen Netzwerken wird
das tägliche Leben immer mehr mit Spielinhalten verknüpft. Oftmals
ohne dass der Nutzer das überhaupt merkt. (Quelle: Foursquare)

Was ist Gamification?

Schuld daran ist die „Gamification“ unserer Welt. Gamification oder auch Gamifizierung beziehungsweise Spielifizierung bedeutet vereinfacht gesagt, dass alltägliche Dinge oder Tätigkeiten mit Spielmechaniken verknüpft werden, die mit dem Spielkontext jedoch nichts zu tun haben. Beliebte Elemente, die heutzutage in vielen Bereichen zu finden sind, können eine Art von Erfahrungspunkten, Highscore-Listen, Fortschrittsbalken oder Ähnliches sein. Ziel ist eine Motivationssteigerung, damit monotone, unbeliebte oder komplexe Aufgaben Spaß machen. Grundsätzlich zielen alle „gamifizierten“ Alltagstätigkeiten darauf ab, den Nutzer entweder durch Belohnung oder durch Wettkampf zu motivieren.

Dass Belohnung am besten dafür geeignet ist, Verhaltensänderungen zu erzielen, fanden Forscher schon in den 1960er- Jahren heraus. Damals nutzte man die sogenannte „Token Economy“ zum Beispiel in Psychiatrien oder Gefängnissen, um Patienten oder Gefangene zu rehabilitieren. Ein Token steht dabei für einen beliebigen Tauschgegenstand, zum Beispiel eine Münze. Die bekam ein Insasse für bestimmte Tätigkeiten als Belohnung und konnte diese später wiederum gegen etwas Begehrteres eintauschen. So sollte er im Lauf der Zeit mit dem belohnten Verhalten etwas Positives verbinden – und es so verinnerlichen.

Die Geschichte der Gamification

Die Wurzeln von Gamification gehen jedoch viel weiter zurück, auch wenn die Anfänge mit dem heutigen Begriff noch nicht allzu viel zu tun zu haben scheinen. Bereits im Jahr 1912 kam die amerikanische Firma Cracker Jack auf die Idee, ihre Kunden mit Belohnungen an sich zu binden. Fortan packte sie Aufkleber, Baseball-Karten und weitere Gimmicks in die Packungen ihrer Snacks, denn die Konsumenten sollten auch immer schön die Produkte von Cracker Jack kaufen, um ihre Sammlung vervollständigen zu können. Ein System, das bis heute funktioniert, ob nun bei Cornflakes, Schokolade oder Fast Food – vor allem junge Kunden will man mit den Spaß versprechenden Goodies bei der Stange halten.

CrackerJack

Den Begriff „Gamification“ benutzte schließlich Richard Bartle im Jahr 1978 zum ersten Mal. Dessen Studienkollege Roy Trubshaw hatte das erste populäre Online- Rollenspiel namens MUD1 programmiert (MUD steht für Multi-User Dungeon). Doch das recht primitive und textbasierte Programm war weniger Spiel als eine Art Anwendung, über die die „Spieler“ miteinander kommunizieren konnten. Bartle setzte sich deshalb daran, MUD1 mit Spielelementen zu versehen, sodass mehr Aufgaben für Motivation sorgen sollten und mehr Wettbewerb unter den Spielern möglich war. Er machte also aus etwas, das kein Spiel war, etwas Spielnahes – die ursprünglichste Definition von Gamification.

In den folgenden Jahren geriet Gamification mehr oder weniger in Vergessenheit. Vielmehr stand lange Zeit die Frage im Fokus, welche Erkenntnisse man aus Spielen herausziehen könne. Vor allem Thomas W. Malone und James Paul Gee, beides US amerikanische Universitätsprofessoren, betrieben hier ab den 1980er-Jahren Forschung darüber, wie Spiele den Nutzer dazu treiben, Dinge zu lernen und gleichzeitig dabei Spaß zu haben, und wie man dies auch auf völlig andere Lebensbereiche anwenden kann.

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America’s Army

Aus diesem Ansatz heraus entstanden ab etwa 2002 die sogenannten „Serious Games“, die dem Spieler ein ernstes Thema nahe bringen sollten oder gar eine ernst zu nehmende Simulation von etwas waren, das dem Spieler beigebracht werden sollte. Populärstes Beispiel ist hier sicherlich der Ego-Shooter America’s Army. Der wurde von der US-Armee für die eigenen Truppen entwickelt, um diese anhand eines Spiels in bestimmten Einsatzsituationen zu trainieren.

Allerdings unterscheiden sich Serious Games stark vom Gamification-Ansatz: Gamification nämlich geht davon aus, eine spielfremde Anwendung mit Design Elementen von Spielen zu würzen, damit der Nutzer mehr Spaß empfindet und stärker motiviert wird. Serious Games dagegen sind von Anfang an als Spiele konzipiert, die zwar ein ernstes Thema oder Ziel verfolgen, aber eben direkt als Games erkennbar sind.

Eine Chance für Firmen

Erst im Jahr 2003 versuchte der Spiele-Entwickler Nick Pelling, Gamification populärer zu machen und gründete die Firma Conundra, über die er anderen Firmen als Berater zur Seite stehen wollte. Ziel war es, den Kunden Wege aufzuzeigen, wie sie die Arbeiten ihrer Angestellten so verändern könnten, dass sie diese spielerisch erledigen. Der Ansatz ging zwar schon in die Richtung, wie wir Gamification heute kennen, doch die Zeit war noch nicht reif. Conundra schloss schnell wieder seine Pforten.

Erst vier Jahre später, im Jahr 2007, fiel der Startschuss für Gamification. Die neu gegründete Firma Bunchball etablierte eine Internetplattform für Unternehmen, die ihre Arbeitsabläufe mithilfe von Gamification verbessern wollten. Im Gegensatz zu Nick Pelling mit Conundra hatten die Verantwortlichen hinter Bunchball den richtigen Riecher; zu ihren Kunden zählen heute unter anderem Großkonzerne wie SAP, Ford, Intel oder Coca-Cola.

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Bunchball setzt dabei auf typische Verhaltensmuster, wie wir Spieler sie aus unseren digitalen Abenteuern kennen. Dem Verkaufsteam von Ford zum Beispiel setzte man verschiedene „Quests“ vor, die es zu erfüllen gab. Zur Belohnung bekamen die Angestellten dann Abzeichen, Levelups und Ähnliches. Außerdem waren verschiedene Teams so plötzlich besser untereinander vergleichbar, was sie dazu anspornte, sich stets übertreffen zu wollen. Die Folgen: motivierte Mitarbeiter, ein besseres Ergebnis für die Firma sowie zufriedene Angestellte und Vorgesetzte.

Spiele sind überall

Die einfachsten Varianten von Gamification finden sich heute jedoch noch immer in der Kundenbindung wieder – etwas, das schon seit Jahrzehnten gängige Praxis ist. Bekanntes Beispiel: die Payback-Karte, bei der man pro Einkauf Punkte gutgeschrieben bekommt und später für eine bestimmte Zahl an Punkten einen Gutschein erhält oder irgendeine Prämie wählen darf.

Das ist im Grunde nichts anderes, als ein Achievement oder ein Upgrade freizuschalten, wie es Spieler in Videospielen eben auch tun. In dieselbe Richtung geht zum Beispiel auch die Lufthansa mit ihrem „Miles and More“-Programm, über das man für gesammelte Flugmeilen Prämien oder Flüge beziehungsweise Flugklassen-Upgrades erhalten kann. Zudem teilt die Lufthansa die Teilnehmer auch noch in unterschiedliche „Levels“ ein, also den Normalflieger, den regelmäßigen Flieger etc. Ein „Level Up“ bringt dann wiederum Vorteile. Videospieler sammeln also Münzen oder Sterne, Fluggäste und Kaufhauskunden sammeln Punkte und Meilen – das Prinzip dahinter bleibt jedoch gleich.

Ich will was Langweiliges machen!

Diese Form der Kundenbindung funktioniert seit Jahren und bedient sich den Mechanismen von Spielen – ohne dass die meisten Kunden dies merken. Die ausgeschütteten Belohnungen, die man für bestimmte Verhaltensweisen – also in dem Fall dem häufigen Konsum – erhält, motivieren den Kunden auf Dauer, immer wieder im gleichen Kaufhaus shoppen zu gehen statt bei der vielleicht günstigeren Konkurrenz vorbeizuschauen.

Viel interessanter greift die Gamification jedoch bei der Verhaltensänderung ein, wenn es um unliebsame Tätigkeiten geht. Allen voran fällt dies beim Thema Sport auf. Natürlich gibt es diejenigen Menschen, die von Haus aus Sport machen und Spaß daran haben. Doch es gibt auch die Couchpotatoes, die lieber vor der Konsole sitzen und Chips mampfen. Und genau diese sprechen Fitness-Apps an. Da gibt es die einfachen Varianten, wie zum Beispiel Runtastic. Das Programm für iOS, Android und Windows Phone zeichnet im Grunde im ersten Schritt mithilfe von GPS nur auf, wo und wie weit der Sportler entlanggelaufen ist, wie schnell er war und so weiter. Daraus berechnet die App nach Beendigung des Jogging-Ausflugs die durchschnittliche Geschwindigkeit, die verbrauchten Kalorien und bei entsprechendem Equipment auch die durchschnittliche Herzfrequenz. Die Daten dienen aber nicht nur als reine Information für den Sportler, sondern lassen sich – Facebook sei Dank – mit Freunden vergleichen. Hier greift im Optimalfall wieder die Lust nach der Achievement-Jagd, das Streben danach, in einer Rangliste der Beste zu sein. Denn dann fängt der Jogger unbewusst damit an, sich einem virtuellen Wettkampf zu stellen – obwohl er Joggen vielleicht gar nicht mag.

Etwas weiter gehen Apps wie etwa Zombies, Run! Letztere verpackt an sich langweiliges Joggen in ein spannendes und motivierendes Abenteuer. Der Clou: Der Läufer, im Spiel „Runner 5“ genannt, befindet sich virtuell auf der Flucht vor blutrünstigen Zombies und muss zudem noch Nachschubgüter aufsammeln, damit er die Apokalypse weiterhin überlebt. Auch dieses Programm funktioniert über GPS und zeichnet allerlei Daten über den Läufer auf, damit dieser seine Erfolge verfolgen kann. Doch Zombies, Run! bringt ein einfaches, motivierendes Element mit sich: Die Angst vor den Fantasie Zombies und dem damit einhergehenden allgegenwärtigen virtuellen Tod treibt den Nutzer an. Denn kommen die gedachten Untoten während des Joggens gefährlich nahe an den Sportler heran, alarmiert die App diesen, damit er schneller läuft. Ganz nach dem Motto: Unbewusst fit werden – und Freunde daran haben.

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Aber nicht nur Sport lässt sich mithilfe der Gamification in etwas Spaßiges verwandeln. Ganz alltägliche Dinge können ebenfalls so verpackt werden, dass sich die Menschen schon fast darauf freuen.

Die iOS- und Android-App Epic Win zum Beispiel erlaubt es dem Spieler, sich eine Liste von Quests anzulegen. Das können sportliche Aufgaben wie Liegestütze oder Sit ups sein. Doch ihr könnt auch Bügeln, Putzen und sonstige Alltagstätigkeiten als Mission definieren. Durch das Erledigen dieser unbeliebten Aufgaben sammelt ihr dann Erfahrungspunkte für euer virtuelles Alter Ego innerhalb der App, steigt im Level auf und dürft euch – natürlich – mit euren Freunden vergleichen. Die Motivation entsteht also vor allem durch Wettkampf.

Pädagogischer Nutzen

Forscher, aber auch Unternehmen haben Gamification in den letzten Jahren verstärkt als das wahrgenommen, was es ist: eine einfache Möglichkeit, die Menschen mit Spaß zu Verhaltensänderungen zu animieren. Die Initiative „The Fun Theory“ von Volkswagen  zum Beispiel testete einige Konzepte, die mit Umweltschutz und Ähnlichem zu tun hatten. Eines der Ergebnisse war die „Bottle Bank Arcade Machine“. Dabei handelte es sich im Grunde nur um einen Altglas-Container. Doch der wurde so verändert, dass er die Leute dazu animierte, ihr Altglas tatsächlich zu recyceln: In der Mülltonne war ein Computersystem verbaut. Jeder, der seine alten Flaschen wegwerfen wollte, musste zunächst den Startknopf drücken. Danach gab die Maschine mittels Leuchtsignalen vor, welche Glasfarbe eingeworfen werden sollte. Für jede richtig eingeworfene Flasche stieg der Punktestand auf einem eingebauten Display.

Ein simples Spiel, das jedoch dazu führte, dass während nur eines Abends über 100 Leute den modifizierten Altglas-Container benutzten, während ein herkömmliches Modell in der Nähe im gleichen Zeitraum nur zweimal aufgesucht wurde.

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„In einer auf Produktivität und Effektivität getrimmten Gesellschaft galten Videogames lange Jahre nur selten als gute Unterhaltung, sondern eher als Zeitverschwendung oder Zeichen der Unreife. Insofern begrüße ich es sehr, wenn nun breitere Schichten unserer Gesellschaft etwa durch allgegenwärtige Apps immer verspielter wird. Sicherlich mag es auch dem einen oder anderen helfen, wenn er sich mit einem App-Spiel motiviert, aber das funktioniert meiner Meinung nach nicht bei jedem. Jeder soll für seine persönlichen Ziele wie mehr Joggen oder Abnehmen das nutzen, was ihm nützt. Nur würde ich die Sache selbst als positiven Trend nicht zu hoch hängen.
Thomas Feibel, Journalist, Autor und Experte für Kinder-Software
(Quelle: Thomas Feibel)

Im Schulbetrieb nimmt Gamification ebenfalls einen immer höheren Stellenwert ein, denn vor allem Kinder lernen besser, wenn sie gleichzeitig Spaß dabei empfinden. Ihr kennt es sicherlich noch aus eurer Grundschulzeit: Wer Hausaufgaben gut erledigt oder im Unterricht immer fein mitarbeitet, den belohnt der Lehrer mit einem Sternchen im Klassenbuch, einem Sticker oder ähnlichen „Geschenken“ – im Optimalfall gibt es bei genug gesammelten Belohnungen eine Art Prämie im Tausch.

Wie Mario mit seinen Münzen versuchen die Kids dann hoffentlich immer mehr solcher Anerkennungen zu sammeln. Von diesem altmodischen, aber dennoch spielnahen Konzept abgesehen, existieren heute natürlich auch jede Menge Apps für Smartphones und Tablets, die Lerninhalte für Kinder ins Spielgewand hüllen, damit sie zum Beispiel gerne Vokabeln pauken.

Gamification – zukünftig überall?

Gamification hat in den letzten Jahren also seinen Boom durch die globale Einführung von Smartphones und durch die immer beliebter werdenden sozialen Netzwerke, allen voran Facebook, erlebt. Nie zuvor war es einfacher, seine Kunden in alltäglichen Dingen mit Aufgaben zu bespaßen und sie sich mit Freunden und anderen vergleichen zu lassen. Die Spielifizierung könnte in Zukunft aber noch weit über ein paar Fitness-Apps oder Kundenbindungsprogramme hinausgehen.

Game-Designer Jesse Schell (unter anderem World of Goo) zeichnete bereits im Jahr 2011 ein interessantes Bild, wohin die Reise der Gamification künftig gehen könnte: Pendler zum Beispiel könnten mithilfe einer Smartphone-App protokollieren, wie sie zur Arbeit kommen. Wer dabei regelmäßig das eigene Auto stehen lässt und stattdessen mit dem Zug, dem Fahrrad oder zu Fuß unterwegs wäre, bekäme mehr Punkte als derjenige, der seine Karre durch die Gegend fährt. Die Punkte wiederum könnten natürlich wie immer zu Achievements, Medaillen und Co. führen und in einer Rangliste mit Freunden abgeglichen werden. Doch gleichzeitig könnte der Staat ein Angebot starten, das dem umweltbewussten Pendler für eine bestimmte Zahl an gesammelten Punkten Steuererleichterungen gewährt. Tolle Idee, wie wir finden!

Ein anderes Szenario, das denkbar wäre: Die Zahnbürste vergibt an ihren Nutzer Punkte für das Zähneputzen. Wer dann eventuell regelmäßig zweimal am Tag die Beißer schrubbt, der bekommt Extrazähler auf sein Konto gutgeschrieben und steigt so vielleicht im Rang über seine Freunde auf. Das freut dann nicht nur ihn, sondern den Zahnarzt – und vor allem die Industrie im Hintergrund. Warum? Putzt man öfter die Zähne, weil man vielleicht einen solchen Wettstreit gewinnen will oder einfach durch virtuelle Belohnungen unterbewusst motiviert wird, verbraucht man mehr Zahnpasta und mehr Bürsten.

Denn eines sollte man sich stets bewusst sein: Viele der Gamification-Systeme werden nicht aus reiner Nächstenliebe installiert, sondern von Firmen, die daraus Nutzen ziehen wollen.

Der vollständige Artikel mit zahlreichen Zusatzkästen ist in play³ 12/2013 erschienen.