Emotionen durch Spiele
An welche Spiele erinnert ihr euch am meisten – und vor allem aus welchen Gründen?
Egal wie eure Antworten ausfallen, ein Aspekt dürfte durch die Bank mitentscheidend sein: die Emotionen, die ihr beim Spielen verspürt habt.
Von Andreas Altenheimer/bpf
REPORT | Ein böses Vorurteil besagt, der gemeine Videospieler sei ein dicker, pickeliger Nerd, der tagein, tagaus nur Call of Duty oder World of Warcraft im Sinn hat und aufgrund mangelnder sozialer Kontakte immer weiter abstumpft. Die Schlussfolgerung: Spiele seien seelenlose Zeitverschwendung, die es zu unterbinden gilt.
Die Autoren dieser Zeilen möchten gleich klarstellen, was für ein ausgemachter Blödsinn dies ist. Aber wem sagen wir das? Wer dieses Vorurteil wirklich glaubt, hat wohl noch nie in seinem Leben von Spielen wie Flower, Gone Home oder Shadow of the Colossus gehört. Für ihn ist es unvorstellbar, dass Computer- und Videospiele ehrliche, nuancierte sowie facettenreiche Emotionen erzeugen können.
Der folgende Artikel bedient sich einer Theorie, die der Psychologe Robert Plutchik in den 1980er-Jahren aufgestellt hat. Demnach gibt es acht Basis-Emotionen, von denen jeder „normale“ Mensch beeinflusst wird: Wut, Freude, Traurigkeit, Erstaunen, Furcht, Ekel, Erwartung und Vertrauen.
Wir haben für jede Emotion eine kleine Geschichte geschrieben, die eine Szene aus einem Spiel widerspiegelt. Natürlich ist die Auswahl subjektiver Natur, aber durch das Betrachten verschiedener Basis-Emotionen möchten wir erreichen, dass jeder von euch zumindest eine nachempfinden kann. Noch eine kleine Warnung an alle Spoiler-Angsthasen vorweg: Die eine oder andere Geschichte verrät einen essenziellen Plot-Twist oder deutet gar die Final-Pointe an. Wer noch nie in seinem Leben Final Fantasy VII, Heavy Rain oder Shadow of the Colossus gespielt hat und dies irgendwann gerne nachholen möchte, sollte die entsprechenden Absätze „Traurigkeit“, „Erwartung“ und „Vertrauen“ mit Vorsicht genießen. Die dort beschriebenen Emotionen hängen mit Erkenntnissen zusammen, die man beim Spielen hat. Der Effekt dieser Emotionen wäre jedoch bedeutend abgeschwächt, wenn ihr eben zuvor gespoilert wurdet.
Wut
„Im tiefsten Inneren einer Grabstätte sucht der Abenteurer nach den Schätzen des alten Pharao. Er hat es bereits weit gebracht, denn nur noch ein kurzer Weg trennt ihn vom letzten Goldstück. Doch auf den verbleibenden Metern sind es nicht die tödlichen Fallen oder die garstigen Mumien, um die er sich sorgt. Es ist das Flattern eines großen, nervigen Vogels, das ihn nervös macht. Und kaum hat er dessen Existenz realisiert, da sieht er das gefiederte Ungeheuer schon wieder aus der Ferne und hat sein lautes, enervierendes Surren im Ohr. Noch ist nichts verloren: Der Abenteurer kramt seine Pistole heraus und schießt in die Dunkelheit. Einmal, zweimal, doch vergeblich: Der Vogel sieht ihn, er schnappt ihn und fliegt mit ihm zurück zum Eingang der Grabstätte. Dabei war er seinem Ziel bereits so nahe. Der Abenteurer ärgert sich. Er ist wütend. Und er sinnt nach Rache.“
Diese Schilderung stammt aus Pharaoh’s Curse, einem 30 Jahre alten Such- und Sammelspiel für den C64. Es war eine Zeit, in der viele Titel aufgrund ihrer unpräzisen Steuerung oder einer unfairen Kollisionsabfrage für Wutanfälle sorgten. Pharaoh’s Curse hingegen gehörte zu den Geheimtipps, die mit einer für die damalige Zeit tadellosen Spielbarkeit und abwechslungsreich gestalteten Bildern glänzten. Der Vogel ist nicht mehr als ein perfides Zufallselement. Ihr wisst nie, wann und wo er auftaucht. Habt ihr Pech, dann flattert er genau dort ins Bild, wo ihr gerade steht. Nicht nur, dass es ärgerlich ist, wenn er euch schnappt und an einen völlig anderen Ort verfrachtet, das Ganze kann auch tödlich enden. So gibt es genügend Fallen, die ebenfalls per Zufallsgenerator aktiv werden und auf denen euch der Vogel liebend gerne absetzt. 1983 waren Spiele eben „anders“ als heute.
Cholerisch veranlagte Zocker sind keine Seltenheit. Kein Wunder: Obwohl Spiele Spaß machen sollen, sollen sie meist auch eine Herausforderung sein. Im Vergleich zum Brettspiel geht es am Computer oder vor der Konsole nicht rein ums Siegen oder ums Verlieren, sondern zusätzlich um das Erleben einer Geschichte, das Erkunden einer Welt und das Erreichen eines Story-Finales. Man möchte einfach wissen, wie es weitergeht. Entsprechend ist der Ärger maßlos, wenn man nicht schnell genug vorankommt oder gar scheitert.
Manche Extremfälle scheinen regelrecht vom Frust zu leben. So wird der Spieler in Super Meat Boy durch einen Jump&Run-Parcours voller fieser Fallen und tödlicher Vorrichtungen geschickt, wo jeder Sprung, jedes Pixel und jede Millisekunde zählt. Zur zusätzlichen Demütigung existiert die alternative Welt, die mit noch mehr Hindernissen und Bösartigkeiten gespickt ist. Schon der Anblick der übertrieben schnell rotierenden Kreissägen sorgt für hysterische Lachanfälle, weshalb bereits das Absolvieren eines Levels zur Mammutaufgabe wird.
Noch berühmter ist der Fall Dark Souls, der allein mit seinen unbarmherzigen Endbossen
ständig mit den Konventionen des „modernen“ Spieldesigns bricht. Da reicht es nicht aus, dem Spieler mit Smough und Ornstein ein unglaublich schweres Duo vor die Füße zu knallen: Sobald ihr nach unzähligen Versuchen einen der beiden geknackt habt, erhält der andere die Fähigkeit des Verstorbenen plus die doppelte Lebensenergie. Er verwandelt sich in ein übermächtiges Killer-Werkzeug und tötet den Spieler innerhalb von Sekunden, weil der noch völlig perplex auf diese Mutation starrt. Zu den potenziellen Folgen gehören kaputte Gamepads, Dellen in der Wand oder Beschwerden aus der Nachbarschaft aufgrund unkontrollierter Schreie.
Im Gegensatz zu vielen anderen schweren Spielen machen diese beiden Titel jedoch eine Sache richtig: Sie behandeln den Spieler fair und mit Respekt. Sie nötigen ihn nicht mit unberechenbaren Zufallselementen oder zeitraubenden Zwischensequenzen. Sie geben ihm die Chance zu trainieren und sich weiterzuentwickeln. Der Spieler spürt trotz seiner Aggression: „Es war mein Fehler.“ In solch speziellen Fällen kann selbst die größte Wut motivieren. Umso gewaltiger ist der emotionale Ausbruch, wenn nach unzähligen Versuchen der Endboss geknackt, der Parcours bewältigt oder der vermaledeite Vogel rechtzeitig abgeknallt wurde. Was folgt, ist eine tiefgehende Befriedigung und eine unvergleichliche Freude.
Freude
„Ungläubig steht Mario vor dem kuscheligen Space-Hasen. Hat er ihn richtig verstanden? Er soll mit ihm … fangen spielen? Ja, warum eigentlich nicht! Der kleine Kerl hoppelt sogleich vergnügt über die Wiese des kugelrunden Planeten. Mario darf nicht trödeln, ganz im Gegenteil: Er flitzt los, er peilt den Hasen an, er zielt, er greift und … ätsch, daneben! Na warte: Wo ist das Mistviech? Ah, da bist du! Also, gleich der nächste Versuch: Gas geben … zielen … einholen … und … hab dich! Juhu! Gleich nochmal!“
Manchmal sind es die einfachen Dinge, die einem das Leben schöner machen. Gerade bei einem Spiel muss es nicht immer kompliziert und anstrengend zugehen. Ab und an möchte man einfach seinen Spaß haben und sich wie ein Kind fühlen. Super Mario Galaxy (Wii) schafft es mit dieser schlichten Szene, dieses Gefühl hervorzurufen. Die Freude gehört zu den wichtigsten Emotionen und geht weit über das beschriebene Beispiel hinaus. Sie tritt bereits in Erscheinung, wenn ihr Dinge erlebt, die euch schlicht und ergreifend gefallen. Wenn der Fan bei Journey dem faszinierenden Lichtspiel in der Wüste zuschaut, den Story-Twist eines Silent Hill: Shattered Memories korrekt vorhersagt oder im altgedienten Turrican 2 in jedem neuen Level-Abschnitt ein weiteres grandioses Musikstück aus der Feder von Chris Hülsbeck zu hören bekommt, dann freut er sich einfach.
Oft ist die Freude unmittelbar mit der Wut verknüpft – ein FIFA-Freund philosophiert in diesem Zusammenhang oft von „einem Tor Unterschied“. So wie der Misserfolg schnell zu Frust und Ärger führt, so sorgt der Erfolg im Idealfall für wohlige Befriedigung und ungebremste Freude. Solch ein Gefühl kennt jeder, der im Ur-Prince of Persia einen besonders tückischen Bereich mit seinen vielen tödlichen Abgründen überwinden konnte, in The Legend of Zelda: Skyward Sword den packenden Schwertkampf gegen Da Ilohm überstanden hat oder bei Day of the Tentacle auf dies eine kaputte Idee gekommen ist, den Hamster in die Tiefkühltruhe zu stopfen.
Im Zusammenhang mit Adventures gibt es einen weiteren Aspekt, der eng mit der Freude verknüpft ist: der Humor. Seien es die mehr oder weniger gelungenen Wortwitze im Schwertkampf von Monkey Island („Meine Narbe im Gesicht stammt aus einem harten Kampf!“ – „Aha, mal wieder in der Nase gebohrt, wie?“), der subtile Hinweis in Hitchhiker’s Guide to the Galaxy, dass man zu Beginn keinen Tee bei sich trägt, oder ein skurriler Charakter wie Janosch, der hessisch babbelnde Rebellenchef aus Chaos auf Deponia: Gute Pointen und schräge Situationen sorgen für leises Kichern oder auch für Bauchschmerzen vor Lachen.
Doch Freude kann auch auch so intensiv sein, dass die Tränen fließen. Wenn eine Situation derart schön ist, dass es einen zerreißt – sei es aus Wehmut oder aus Glückseligkeit. Jeder, der Gone Home bereits gespielt hat, weiß hoffentlich, was gemeint ist.
Trauer
„Ein solch grausames Schicksal wünscht man seinem ärgsten Feind nicht: Das vergiftete Trinkwasser hat fast alle Bewohner des Schlosses dahingerafft. Cyan gehört zu den wenigen Überlebenden, doch er wird kaum von Glück reden, wenn er seine Frau und seinen Sohn leblos in ihren Gemächern findet. Voller Wut sinnt er nach Rache gegen die Verantwortlichen dieser grauenvollen Tat. Er schließt sich einer Heldentruppe an, die genau wie er dem Imperium den Kampf angesagt hat. Auf ihrem Weg gelangen sie zu einem mysteriösen Geisterzug, der die jüngst verstorbenen Seelen ins Totenreich geleitet. Dort begegnet Cyan ein letztes Mal Elayne und Owain. Und es bricht einem das Herz, den verzweifelten Mann bei der Verabschiedung seiner Familie beizuwohnen.“
Weinen ist gut, egal aus welchem Grund. Im Falle der Trauer geht es um Verlust, wie das Beispiel aus Final Fantasy VI zeigt. Leider gibt es viel zu wenig Spiele, die eine solche starke Bindung erzeugen, dass einem der Tod einer Figur derart nahe geht. Zu den seltenen Ausnahmen gehört The Last of Us, dessen Intro uns innerhalb weniger Minuten ein ungeahntes Mitgefühl gegenüber dem Protagonisten Joel aufkommen lässt. Es erreicht dieses Kunststück durch eine perfekte Charakterdarstellung und eine hervorragend geschriebene Szene. Des Weiteren dient es als wichtiges Grundgerüst für den Verlauf der Geschichte, die euch bis zum Ende immer wieder aufwühlen wird.
Selbst eine prinzipiell auf lustig getrimmte Adventure-Serie wie Deponia sorgt am Schluss für Wehmut, wenn der Spieler nach dem letzten Klick in tiefer Ungewissheit gelassen wird, ob er jemals wieder die Rolle des quirligen Rufus übernehmen darf. Keine Frage: Abschied tut weh. Aber das beweist zugleich, wie wichtig all die Charaktere und Figuren für einen geworden sind.
Zu guter Letzt waren es wieder die Leute von Squaresoft, die vielen Spielern ein traumatisches und unvergessliches Erlebnis bescherten: den Mord an Aerith. Final Fantasy VII ist ein einzigartiges Beispiel für den Mut eines Entwicklers. Dem Spieler wird mitten im Abenteuer ein essenzieller Protagonist entrissen, und dieser Verlust ist auch noch endgültig. In einer Welt, wo wir Speicherstände laden, uns an Checkpoints laben oder unendlich viele „Leben“ besitzen, setzte Squaresoft mit diesem unvermeidlichen Ereignis ein Ausrufezeichen. Dieser Tod sorgte nicht nur für Kummer, sondern war mit dieser schlichten Szene ein echter Schock. Viele dachten sich damals: „Das kann
nicht wahr sein. Das können die nicht machen!“
Erstaunen
„Ein Job wie jeder andere, denkt sich Booker DeWitt: Er soll ein gefangen gehaltenes Mädchen finden und befreien. Ein normaler Mensch hätte zumindest gefragt, warum er im strömenden Regen zu einem verlassenen Leuchtturm mitten im Nirgendwo geführt wird. Doch DeWitt interessiert das nicht wirklich. Er betritt gewissenhaft den Turm, im festen Glauben, jemanden darin zu treffen. Er steigt stumpf jede einzelne Treppenstufe hinauf, doch da ist niemand. Naiv setzt er sich auf den rot gepolsterten Stuhl, als sich ruckartig Schellen um seine Hand wickeln. Wehrlos sieht er mit an, wie sich um ihn herum eine Kapsel bildet und unter ihm ein Antrieb zündet. Angst und Unsicherheit übermannen DeWitt. In Höchstgeschwindigkeit und unter heftigen Turbulenzen fliegt die Kapsel steil nach oben. Das Schütteln wird immer heftiger, das Rütteln immer intensiver. Plötzlich durchbricht die Kapsel die Wolkendecke und … Halleluja! DeWitt kommt aus dem Staunen nicht heraus. Vor ihm entfaltet sich eine Himmelsstadt, die durch das gleißende Sonnenlicht wie pures Gold glänzt und einen starken Kontrast zur grauen, kalten Erdoberfläche bildet, weshalb es einem die Sprache verschlägt. Selbst die Kapsel schwebt nunmehr ruhig und landet sicher in einem Tempelgebäude. Vor DeWitt erstreckt sich eine riesige Front aus Glasfenstern, darauf eine göttliche Botschaft: Ein bärtiger Mann steht erhaben und mit ausgestreckter Hand vor einer gebannt auf ihn schauenden Menschenmenge. Darüber steht der Spruch „And the prophet shall lead the people to the new eden“ geschrieben. DeWitt ist geschockt von all der Schönheit und möchte instinktiv an dieses vermeintliche Paradies glauben.“
Es ist ein Schock, den wir zu Beginn des Ego-Shooters Bioshock Infinite erleben. Aber es ist auch ein erstaunlich positiver Schock, weil er den Spieler mit seiner Schönheit regelrecht erschlägt und zumindest für einen Augenblick alle Sorgen, die da noch kommen werden, vergessen lässt.
Ansonsten schocken Spiele mit unangenehmen Überraschungen, beispielsweise wenn in Resident Evil ohne Vorwarnung ein blutrünstiger Hund durch ein Glasfenster springt oder der zu rettende Pilot im ergrauten Rescue on Fractalus sich als Monster entpuppt, das wild an die Frontscheibe des eigenen Raumgleiters hämmert. Richtig fies sind die Schocks, die uns völlig alleine lassen. Kein anderer als Peter Molyneux hat anno 1990 ei Jump & Run namens Flood abgesegnet, das von der Grafik her durchaus Kindern Spaß machen dürfte und gleichzeitig mit seinem hohen Schwierigkeitsgrad den versierten Nerd fordert. Auch die Prämisse klingt harmlos: Quiffy lebt seit seiner Geburt in der Kanalisation und möchte da einfach nur raus.
Und was passiert, wenn dieses Vorhaben nach 42 Levels gelingt? Der Kleine krabbelt durch den letzten Kontrollschacht, genießt erstmals in seinem Leben die frische Atemluft und wird von einem Auto überfahren. All das geschieht kommentarlos innerhalb von sieben Sekunden. Danach folgt ein schwarzer Bildschirm.
Meist ist ein Schock unangenehmer Natur und demnach nicht jedermanns Sache. Und genau dasselbe gilt auch die nächste Emotion, die ebenfalls zwiespältige Gefühlte hinterlässt: die Angst.
Der vollständige Artikel mit zahlreichen Extrakästen ist in play³ 01/2014 erschienen.