Videospiel „Gran Turismo 6“ im Test: Zukunftsvisionen in Polygon-Karbon

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Schnell, realistisch, visionär: Sony schlägt mit seinem faszinierenden Playstation-3-Rennspiel „Gran Turismo 6“ sogar die Next-Gen-Konkurrenz „Forza 5“.

Von Benjamin Kratsch und Benedikt Plass-Fleßenkämper

Der Mercedes Benz AMG Vision Gran Turismo sieht aus, als hätte man eine dieser pazifischen Wellen an der kalifornischen Küste in Karbon gegossen. Es gibt keine Kanten, die Form wirkt sinnlich und kombiniert Hightech mit einer Designsprache, die man so nicht von Mercedes kennt. Die lange Motorhaube geht fließend in den Fahrzeugkörper über und mit seiner Stromlinienförmigkeit erinnert er weniger an ein Automobil als an das Raumschiff von Prinzessin Amidala aus „Star Wars – Episode 1“.

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„Die Grenzen verschieben“

Nun ist das hier nur eines von 1200 Autos von 53 Herstellern in „Gran Turismo 6“ – und doch zeigt es sehr schön, was die beliebte Rennspiel-Serie sein will: Nicht einfach nur eine Rennsimulation, die sich auf pures Können, auf den perfekten Bremspunkt und die Ideallinie beschränkt, sondern ein Spiel, das von Auto-Liebhabern für Auto-Liebhaber erschaffen wurde. Sein Chefdesigner Kazunori Yamauchi ist ein Typ, der wirklich Benzin im Blut hat und mit seinen 46 Jahren noch immer bei knallharten Rennen wie den 24 Stunden von Le Mans antritt. „Es gibt immer diese zwei Philosophien“, erklärt der Japaner im Gespräch mit stern.de. „Wir können uns auf Supersportler von heute wie den Pagani Huayra fokussieren. Ein Auto, das sich am Rande des derzeit technisch machbaren befindet. Oder wir können die Grenzen verschieben, können überlegen, was wir morgen fahren werden oder in einigen Jahren. Ich liebe es zu träumen, Konventionen zu brechen und die Zukunft schon heute in Gran Turismo abbilden zu können. Wer weiß, ob und wann der AMG Vision je seinen markanten LED-Kühlergrill aufleuchten lassen wird. Aber er tut es schon jetzt in ‚Gran Turismo 6‘.“ Ist es diese visionäre Kraft, die „Gran Turismo 6“ letztlich eine Reifenbreite vor „Forza Motorsport 5“ setzt?

„Gran Turismo 6“ gegen „Forza Motorsport 5“

Eigentlich ist es ein ungleicher Kampf, ein Wettstreit der sieben Jahre alten Playstation 3 gegen die gerade wenige Tage alte Xbox One. Doch wo man in „Forza 5“ bereits nach drei Stunden alle 14 Kurse mehrfach erlebt hat, fährt „Gran Turismo 6“ 37 Strecken mit insgesamt 100 Layouts auf. Und wo Microsoft sein ganzes Spiel darauf getrimmt hat, im Nachhinein möglichst viel Geld mit Download-Inhalten wie neuen Ferraris zu verdienen, will Kazunori Yamauchi in erster Linie die Gesamtheit der Automobil-Welt abbilden: Von klein bis groß, von langsam bis schnell, von alt bis surreal modern. Das Portfolio reicht vom Alltagsauto bis zur wilden Formel-3-Konzeptstudio von Nissan; vom Go-Kart mit eigens designter Rennstrecke bis zum virtuellen Nachbau eines Lunar-Mond-Rover der Nasa.

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Das mag nicht jedem gefallen, denn bevor die edlen Supersportler wie die Viper GTS, Pagani Huayra oder Bugatti Veyron in der eigenen virtuellen Garage stehen, ist in der gut 50-stündigen Einspieler-Kampagne echte Arbeit am Steuer von Kleinwagen wie dem Nissan Pixo oder Honda Fit RS angesagt. Autos also, deren Qualität sich eher im Stauraum für Kindersitze, denn Fahrspaß und Adrenalinrausch ergeben. Nur: Warum machen Sony und Yamauchi das immer wieder?

Vom Honda zum Pagani: Der Weg ist das Ziel

Die Karriere bis in den Olymp mit den 800-PS-Supersportlern ist steinig, wurde von den Fans schon oft bemängelt – und doch ist es die richtige Designentscheidung. Entwickler Polyphony Digital will, dass die Spieler die Faszination Motorsport in ihrer gesamten Breite erleben: Amerikanische NASCAR-Events mit sehr langen Geraden und fiesen Kurven genauso wie die Tourenwagen-Meisterschaft, bei der es der Ritt auf der Ideallinie ist, der richtig kickt. Erst wer sich mit einem 90-PS-Motor über den Nürburgring gequält hat, kann wirklich die technische Leistung eines 540-PS-Monsters wie dem Audi R18 TDI in der Rennversion würdigen.

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Apollo 15: Die Mondlande-Mission
210 Kilo Aluminium, ein Radstand von 2,3 Metern – das Lunar Roving Vehicle LEV-001 ist das außergewöhnlichste Fahrzeug, das je in einem Rennspiel steuerbar war und ein schönes Beispiel für Kazunori Yamauchis Drang zur Perfektion: „Wir haben dafür eng mit dem damaligen Chefingenieur der Nasa zusammengearbeitet und auf Basis seiner Daten die Oberfläche des Mondes 1:1 so designt, wie sie 1971 war.“ Natürlich wartet hier kein Rennen, viel mehr ist die Fahrt in dem ungewöhnlichen Gefährt ein chirurgisch genaues Zirkeln um Felsen herum. Wer zu schnell fährt, wirbelt eine aschgraue Regolith-Staubschicht auf und riskiert, dass die Reifen den Bodenkontakt verlieren.

Es ist faszinierend, wie viel Detailarbeit das Team in jedes Auto steckt – völlig unabhängig davon, ob es in der Realität 5000 oder 500.000 Euro kosten würde. Kein Fahrzeug ist egal und jedes bietet seine ganz individuelle Herausforderung: In der A-Klasse mit all den Fords und Hondas gilt es, perfekt auf der Ideallinie zu fahren, weil die Motoren so träge arbeiten, dass man kaum aus der Kurve heraus beschleunigen kann und Überholmanöver schwierig sind. So ein britischer Landrover wiederum hat viel Masse, die ihn nach außen drängt, erfordert ergo ein ganz anderes Bremsverhalten als ein leichterer BMW M6.

Das Belohnungssystem ist dabei zweigeteilt: Credits – also die Spielwährung – bekommt man für jedes Rennen je nach Platzierung, Sterne zum Freischalten der nächst höheren Liga hingegen nur für den ersten bis dritten Platz. Wie vom Vorgänger „Gran Turismo 5“ gewöhnt, gibt’s die meisten Punkte, wenn man alle Fahrhilfen abschaltet. Ohnehin sollte der Spieler viel Zeit einplanen: Während so ein BMW M6 mit seinen 100.000 Credits recht schnell erspielt ist, wollen für den Millionenbetrag, den der Pagani Huyra kostet, schon ordentlich Kilometer geschrubbt und viele, viele Siege eingefahren werden.

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Umstrittene Mikrotransaktionen

Nicht unumstritten ist Sonys neues Mikrotransaktion-System: Wer keine Lust hat, viel Zeit zu investieren, kann für 4,99 Euro beispielsweise 500.000 Credits kaufen. Allerdings lässt sich jedes Auto im Arcade-Modus sowieso fahren und die Preise sind im Spiel der Realität nachempfunden. So kostet eine 460 PS starke Corvette Stingray 51.000 Credits, also rund 50 Echtgeld-Cent. Im Vergleich zu „Forza 5“ ein moderates Preisgefüge, da man hier Car-Packs kaufen muss, um bestimmte Wagen wie den La Ferrari freizuschalten, diese aber nicht erspielen kann.

Neues Reifensystem und Regenrennen auf jeder Strecke

„Gran Turismo 6“ ist keine Revolution, zieht die Schrauben aber genau an der richtigen Stelle fest: Regenrennen sind jetzt auf jeder Strecke möglich, vom Autodromo Monza im warmen Italien bis in die grüne Hölle des Nürburgrings. Im Auswahlmenü lässt sich sogar einstellen, wie stark sich das Wetter mit der Zeit verändern soll. Wer mag, startet also bei Nieselregen auf der fiesen, weil Schikanen-lastigen Eiger-Nordwand und zirkelt im Verlauf durch die neblige Nacht. Trotz der alten PS3-Hardware sieht das erstaunlich gut aus, auch wenn die Regeneffekte bei einem „Need for Speed: Shift 2“ schon mal schöner von der Frontscheibe geperlt sind. Dennoch ist das ein deutlicher Pluspunkt gegenüber „Forza 5“, das selbst auf der neuen Xbox One noch immer keine Wettereffekte bietet.

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Vor allem, weil die Wettereinflüsse nicht nur atmosphärisch, sondern auch spielerisch klasse umgesetzt sind: Die Gischt bei Regen macht Kontrahenten im Rückspiegel und den weiteren Streckenverlauf nahezu unsichtbar, und ohne Regenreifen bricht selbst bei einem FIA-GT-Renner wie dem BMW Z4 GT3 gerne mal das Hinterrad aus. Für das neue Reifensystem hat Entwickler Polyphony Digital eng mit dem Hersteller Yokohama zusammengearbeitet – und das macht sich bezahlt: Gerade ein 500-PS-Bolide lässt sich mit den richtigen Reifen deutlich härter anfassen.

Fazit: Aus Liebe zum Automobil

Sony hat seine Hausaufgaben gemacht: Die Karriere ist jetzt sinnvoll strukturiert, Online können bis zu 15 Freunde eine eigene Meisterschaft für die Lieblingsmarke kreieren und bei einer gigantischen Autoauswahl vom Ultraleicht-Bau KTM X-BOW über Supersportler wie den Koenigsegg Agera R bis hin zu Oldie-Exoten wie dem Abarth 1500 Biposto Bertone wird hier jeder irgendwo glücklich. „Gran Turismo 6“ mag sich technisch nur in Nuancen weiterentwickelt haben, kann nicht ganz das wunderschöne Lichtspiel und die edlen Spiegelungen auf dem Karbon eines „Forza 5“ auffahren und der Motorensound ist immer noch nicht kraftvoll genug. Zudem dürfte das neue Mikrotransaktion-System Spieler nerven, die keine Lust darauf haben, ständig der Verlockung widerstehen zu müssen, sich nicht vielleicht doch den einen oder andere Edel-Schlitten für echtes Geld zu kaufen und so viel Zeit zu sparen.

Doch die individuelle Fahrphysik und die Charakteristik jedes einzelnen Autos transportiert kein Spiel besser als „Gran Turismo 6“. Der größte und wichtigste Pluspunkt sind aber diese Überraschungseffekte, die an jeder Ecke warten: Nissans N-Vision fühlt sich etwa an, als würde man ein Raketenauto beschleunigen; der One des Sportartikelherstellers Nike erinnert an das Planeten-Fahrzeug aus „Mass Effect“. Und spätestens wer mit dem Lunar Roving Vehicle LEV-001 von der Mondlande-Operation Apollo 15 einen Sprung von drei Sekunden in niedriger Gravitation macht, um eine Trophäe freizuschalten, der hat das Gefühl, als sei dieses Spiel schlicht grenzenlos.

Hersteller Polyphony
Vertrieb Sony
Plattform Playstation 3
Genre Rennspiel
Preis 70 Euro
Altersfreigabe: ab 0 Jahren

Erschienen am 06. Dezember 2013 bei stern.de