David Cage und Quantic Dream: Meisterhafte Geschichten, große Gefühle und jede Menge Visionen

logo_play4

Was macht einen Visionär eigentlich aus? Seine Ideale? Der Wunsch nach Großem? Das Schaffen von etwas Neuem?
Oder muss er frech sein, Kritik konsequent ignorieren und sich zur richtigen Zeit am richtigen Ort aufhalten? David Cage, Gründer und Chef von Quantic Dream, erfüllt all diese Kriterien – und rangiert damit irgendwo zwischen Genie und Wahnsinn.

Von Benedikt Plass-Fleßenkämper und Andreas Altenheimer

Report | Bereits der Name ist Teil des selbst gebauten Ruhms des am 9. Juni 1969 im französischen Mühlhausen geborenen Videospieldesigners David Cage. Denn eigentlich heißt er David De Gruttola. Das schien ihm jedoch nicht einprägsam genug zu sein, um der Gamesbranche in Erinnerung zu bleiben. Ein fescher Ersatz musste also her. Mit „David Cage“ wählte er ein markantes Pseudonym, das an Künstlernamen aus Hollywood erinnert.

David Cages Werdegang ist faszinierend, seine frühen Errungenschaften in der Spieleindustrie sind es allerdings nicht. Als David noch De Gruttola ist, liefert er drittklassige Soundtracks für ebenso drittklassige Videospiele wie Super Dany (1994) oder Timecop und Cheese Cat-Astrophe starring Speedy Gonzalez (beide 1995) ab. Überhaupt sind die Werke von De Gruttolas damaligem Auftraggeber Cryo für ihre meist schwache Qualität berüchtigt.

Visionär, Kreativgeist, Perfektionist: Der Franzose David Cage heißt mit bürgerlichem Namen eigentlich David De Gruttola. Der Leiter des Entwicklungsstudios Quantic Dream arbeitete zu Beginn seiner Karriere als professioneller Musiker.

Visionär, Kreativgeist, Perfektionist: Der Franzose David
Cage heißt mit bürgerlichem Namen eigentlich David De Gruttola. Der Leiter des Entwicklungsstudios Quantic Dream arbeitete zu Beginn seiner Karriere als professioneller Musiker.

Bis 1997 geht es De Gruttola vor allem ums Geldverdienen, doch dann reift ein ehrgeiziger Wunsch in ihm heran: Warum nicht das ultimative Spiel entwickeln, das alle Genres vereint? Ein Action-Adventure-Hybrid, der Erkundungsabenteuer mit Ego-Shooter-Szenen und kurzweiligen Prügelspieleinlagen in ein futuristisches Sci-Fi-Korsett verpackt?

Cryo reagiert mit Kopfschütteln und Unverständnis, das Konzept erscheint unmöglich realisierbar. De Gruttola lässt sich davon jedoch nicht beirren, sagt Cryo Adieu und riskiert viel: Er kratzt alle Ersparnisse zusammen, heuert ein Team von fünf Mann an und schustert mit seinem neuen Studio Quantic Dream innerhalb von sechs Monaten einen Prototypen zusammen, in dem eine frei steuerbare Figur durch eine von NPCs bevölkerte 3D-Stadt marschiert. Das Ergebnis ist offenbar so beeindruckend, dass der Franzose, der sich inzwischen David Cage nennt, einen Interessenten findet. Der Publisher Eidos nimmt ihn und seine Mitarbeiter unter Vertrag und gibt die Entwicklung eines Spiels in Auftrag: Omikron: The Nomad Soul.

Omikron: Sci-Fi à la David Cage

Der Bildschirm ist schwarz, als sich vor euch ein Portal öffnet. Heraus hechtet ein Mann namens Kay’l, der verzweifelt um Hilfe bittet. Nur ihr könnt seine Welt retten, weshalb ihr gemeinsam zurück durch das Portal springen sollt. Das wiederum funktioniert aber nur, wenn ihr eure Seele in seinen Körper verfrachtet …

Bereits diese Einleitung ist ein erzähltechnischer Zaubertrick, weil Polizist Kay’l durch die direkte Ansprache gleich zu Beginn von Omikron: The Nomad Soul die „vierte Wand“ durchbricht. Ergo übernehmt ihr nicht die Rolle einer Figur, sondern „nur“ die eines Körpers, in dem ihr selbst drinsteckt. Darüber hinaus werdet ihr früher oder später sterben und den Körper von Kay’l verlieren. Eure Seele wandert dann in einen anderen Wirt, der euch zum Zeitpunkt des Todes am nächsten steht.

Die Story spiegelt ungefähr wider, was Cage für Quantic Dreams Erstlingswerk vorschwebt. Die fremdartige, futuristisch angehauchte Welt könnte einem George-Orwell Roman entsprungen sein. Die Bevölkerung unterliegt den strengen Regeln eines korrupten Regimes; jeder Bewohner besitzt eine Nummer anstatt eines Nachnamens. Kleine Delikte führen zu drakonischen, lebenslangen Haftstrafen, während brutale Mordfälle heimlich zu den Akten gelegt werden. Gleichzeitig macht ein Serienkiller die Gegend unsicher, der laut Augenzeugen einem monströsen Dämon gleicht.

"Omikron: The Nomad Soul"

„Omikron: The Nomad Soul“

Cage, schon damals Regisseur und Autor in Personalunion, bedient sich zahlreicher Klischees, obendrein wirken seine Dialoge arg naiv. Wirklich glaubhaft ist die Welt von Omikron zu keinem Zeitpunkt, trotzdem verströmt sie aufgrund ihrer Möglichkeiten enorme Faszination. Ihr könnt euch frei in der Stadt bewegen, löst ähnlich wie in einem Adventure Rätsel, dürft mit den passenden Schlüsseln jedes Gebäude betreten, verprügelt Schurken wie in einem Beat ’em Up und ballert euch durch kleine Shooter-Segmente. Zwar wirken insbesondere Letztere steif und unausgereift, aber das ist zweitrangig. Allein die Tatsache, dass mehrere Genres aufeinander abgestimmt sind und rudimentär funktionieren, macht das 1999 veröffentlichte Omikron zu einem Kultspiel. Nicht zuletzt weil die ungewöhnliche Kooperation mit Popstar David Bowie, der zwei Nebencharaktere verkörpert und die Musik beisteuert, zusätzlich das Interesse der Spieler weckt.

Trotz der vielen Programmfehler erlangt Omikron Geheimtipp-Status. Selbst die strengeren Kritiker zollen dem ambitionierten Projekt Respekt und drücken bei der schon für die damalige Zeit nicht besonders guten Steuerung ein Auge zu. Kommerziell erfolgreich ist das Spiel jedoch nicht: Die knapp 350.000 Einheiten, die von den PC- und Dreamcast Versionen abgesetzt werden, enttäuschen Cage und seine Mitstreiter.

Eidos hingegen scheint zufrieden zu sein und verlangt innerhalb von zehn Monaten einen Nachfolger. Cage lehnt indes dankend ab – und geht das nächste Wagnis seiner Karriere ein: Er will lieber etwas völlig Neues erschaffen und Menschen ansprechen, die bis dato nichts mit Videospielen anfangen konnten. Dazu braucht er sechs Jahre, die Quantic Dream mangels festen Publishers fast nicht überlebt hätte. Zum Glück landet man am Ende beim altgedienten Label Atari, unter dem im Jahr 2005 das neue Werk veröffentlicht wird: Fahrenheit.

Der vollständige Artikel mit zahlreichen Extrakästen ist in play4 01/2016 erschienen.