„Wir geben Vollgas, bis wir gegen eine Wand knallen“

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Das Jahrzehnt der Online-Helden: Interview mit „WoW“-Gamedirector Tom Chilton

Von Heinrich Lenhardt/bpf

Am 23. November 2004 begann eine Fantasy-Erfolgsgeschichte, deren Ende noch lange nicht abzusehen ist: Dank seiner farbenprächtigen Spielwelt und einem Solisten-freundlichen Quest-System wurde „World of Warcraft“ zum Superstar unter den Online-Rollenspielen. Tom Chilton war damals Lead Designer im Blizzard-Team, heute ist er als Game Director für die weiteren WoW-Geschicke verantwortlich. Im Gespräch mit T-OnlineSpiele plaudert er über Erinnerungen an den Entwicklungsendspurt 2004 und die weiteren Aussichten für den MMORPG-Dauerbrenner.

Blizzard-Hits, Metallica-Konzert und jede Menge World of Warcraft

Anaheim in Südkalifornien bietet an diesem Novembertag bestes Disneyland-Wetter: Knapp 30 Grad, die Sonne lacht. Für die 25.000 Besucher der BlizzCon-Messe gibt es freilich nichts Besseres, als das klimatisierte Halbdunkel des Anaheim Convention Centers aufzusuchen. Hier findet die Blizzard-Hausmesse bereits zum achten Mal statt – und das mit großem Erfolg: Die 199 US-Dollar teuren Eintrittskarten für die zweitägige Veranstaltung waren binnen kürzester Zeit ausverkauft. Dafür bekam man Vorträge von Blizzard-Personal, reichlich Spielturniere und ein Abschlusskonzert mit Metallica geboten. Bei unserem Interview-Termin waren keine Ohrenstöpsel nötig: In einem beschaulichen Meetingraum trafen wir World of Warcraft-Game-Director Tom Chilton zum Plausch über die Entstehung und Zukunft des Online-Rollenspiels, das in diesen Tagen seinen zehnten Geburtstag feiert.

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T-Online.de Spiele: Tom, „World of Wacraft“ ist auch nach zehn Jahren noch quicklebendig, die jüngste Erweiterung „Warlords of Draenor“ ist kürzlich erschienen. Wie erklärst du dir diese Langlebigkeit?

Tom Chilton: Letztendlich ist es die Welt an sich: Das Warcraft-Universum und Azeroth, die verschiedenen Völker, die Horde und die Allianz. Ich finde es ist schwer, sich nicht in das Warcraft-Universum zu verlieben. Ich erinnere mich daran, wie ich mich das erste Mal ins Spiel einloggte, als ich bei Blizzard zu arbeiten begann. Ich spielte mich durch den Wald von Elwynn und wechselte nach Westfall. Als ich diesen nahtlosen Übergang zwischen den Zonen erlebte, dachte ich mir: „Woah, diese Welt ist so cool!“

Beim Start 2004 waren die Solo-Freundlichkeit und die Quest-Dichte im MMOG-Genre ungewöhnlich.

Eines der Probleme mit früheren MMORPGs wie Ultima Online oder Everquest war, dass du in deren Welt hinein geboren wurdest, aber dann eigentlich keine Ahnung hattest, wo du hingehen und was du tun solltest. Wir wollten dafür sorgen, dass der Spieler immer eine Quest hat, die ihm sagt: ‚Da solltest du hin, das kannst du als nächstes anstellen.‘ Wir nennen unsere Quest-Designer die ‚Animateure von WoW‘: ‚Okay, jetzt gehen wir dort hin und unternehmen dann diese Aktivität‘ [lacht]. Dass du bis zur Höchststufe solo spielen konntest, war auch ein wichtiger Faktor. Und generell waren die Spielmechaniken klar und einfach, all die Klassen waren verständlich und es steckte starke Fantasy dahinter.

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Apropos „Klassen“, die spielten sich bemerkenswert unterschiedlich.

Ja, das war etwas, mit dem Blizzard durch die Entwicklung von Echtzeitstrategiespielen eine Menge Erfahrung hatte. Zum Beispiel wurden damals für Starcraft drei sehr unterschiedliche Rassen mit eigenem Spielstil designt, deren Einheiten alle sehr charakteristisch sind. So etwas ist uns generell sehr wichtig, und es wurde auf WoW übertragen.

Du bist im Jahr vor der Veröffentlichung zum WoW-Team gestoßen. In welchem Zustand war das Spiel Anfang 2004?

Zu diesem Zeitpunkt waren die Kernprinzipien bereits etabliert, das Quest-System oder wie gut die Welt aussah. Aber es gab noch nicht viele Spielinhalte. Als ich zum Team stieß, war das Level-Cap der ‚Friends & Family‘-Alphaversion etwa bei Stufe 20. Für die Allianz gab es nur Inhalte bis zur Zone Dämmerwald. Alles, was danach kam, hatte noch keine Missionen oder Gegner. Kein einziges Dungeon war fertig. Das Leveldesign für einige der Dungeons wie die Todesminen war schon gemacht worden, aber du konntest sie noch nicht durchspielen, weil sie leer waren.

WoW war ja quasi zwei Spiele in einem – zum einen das einsteigerfreundliche Hochleveln, zum anderen die schweren Gruppen-Dungeons.

Das ist richtig, denn eines der Grundprinzipien von WoW lautete, dass du solo bis zur höchsten Charakterstufe spielen kannst. Das war seinerzeit revolutionär, so etwas konntest du von den anderen Level-basierten MMOGs nicht. Wir wollten aber auch die Hardcore-Spieler der anderen MMOs anlocken. Der Everquest-Raid-Spieler sollte das Gefühl haben, dass es bei WoW etwas Spannendes für ihn gibt. Damals dachten wir, dass die meisten Spieler nur bis Level 60 spielen würden und dann fertig sind oder vielleicht einen neuen Charakter beginnen. Dungeons und Raids waren als ein Bereich gedacht, der exklusiv für die Hardcore-User war. Aber im Laufe der Zeit sahen wir, dass mehr und mehr Spieler sie erlebten wollten, und so machten wir die Dungeons und Raids für eine größere Nutzerzahl zugänglich.

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Gab’s in der stressigen Entwicklungs-Endphase 2004 auch mal Streit um Spieldesign-Entscheidungen?

Das Designteam war sehr freundlich und gemeinschaftlich. Wir hatten ständig Diskussionen wie ‚Oh nein, ich denke, wir sollten das so und so machen.‘ Aber wir erzielten ziemlich effektiv einen Konsens; insgesamt sind die Leute wirklich gut miteinander ausgekommen.

WoW wurde im Laufe der Jahre kontinuierlich verbessert. Habt Ihr Euch je Gedanken über einen komplett neuen Nachfolger gemacht, quasi „World of Warcraft 2“?

Wir hatten nie einen Plan dafür gehabt, wie wir WoW fortsetzen, denn wir dachten immer, dass wir erst im Laufe der Zeit ein besseres Verständnis dafür bekommen würden. Vor zehn oder vor fünf Jahren war es zu schwierig vorherzusehen, wie wir das behandeln würden… tatsächlich machen wir uns immer noch Gedanken darüber. Ich glaube, dass es möglich ist ein WoW 2 zu machen, das potenziell ein erfolgreicher Nachfolger zu WoW sein könnte. Ein solches Projekt wäre sicherlich extrem herausfordernd und sehr ambitioniert. Wir hatten bisher jedoch nicht einen Zeitpunkt erreicht, wo es sich anfühlte wie: ‚Das ist die richtige Zeit, um dieses Produkt zu machen.‘ Ich denke, dass es eine Möglichkeit für die Zukunft sein könnte.

Wie geht’s nach „Warlords of Draenor“ weiter? Kannst du uns schon ein paar Hinweise zur darauf folgenden Erweiterung verraten?

Keine Hinweise, aber ja, wir arbeiten aktiv daran. Wir haben bereits Zonen für die nächste Erweiterung in Entwicklung, denn wir versuchen immer noch einen schnelleren Veröffentlichungsrhythmus zu schaffen. Es gab schon immer dieses Ziel von jährlichen Erweiterungen, aber es ist definitiv nicht so leicht. In den letzten 18 Monaten machten wir bedeutsame Fortschritte, um dieses Ziel zu erreichen. Wir haben das Team erheblich erweitert, um etwa 50 bis 60 Prozent. Es gibt jetzt über 200 Leute, die nur an „World of Warcraft“ arbeiten. Zum Vergleich: 2004 veröffentlichten wir „WoW“ mit einem 65-köpfigen Team und wuchsen schnell auf etwa hundert Angestellte. Es dauert immer eine Weile bis die neuen Leute daran gewöhnt sind „WoW“-Inhalte zu machen, und mit jeder zusätzlichen Person verlierst du etwas Effizienz wegen Koordination und Kommunikation. Aber wir haben definitiv das Gefühl, dass wir jetzt besser als früher positioniert sind, um Dinge schneller zu machen.

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Die neue Erweiterung „Warlords of Draenor“ ist von der Stimmung her fast eine 180-Grad-Drehung gegenüber „Mists of Pandaria“. Ist das euer Eingeständnis, dass Pandaria eigentlich zu nett und niedlich war?

Nun, das war sehr beabsichtigt [lacht]. Uns war bei Pandaria bewusst, dass es einen Schritt zurück von den üblichen Azeroth-Weltuntergangsbedrohungen bedeutet. Aber das war sehr wichtig, denn es wäre unglaubwürdig, diese ununterbrochen fortzusetzen. Wir hatten „The Burning Crusade“ mit Illidan, dann kam „Wrath of the Lich King“ – „Oh mein Gott, die Geißel wird die Welt vernichten!“ Und dann hattest du Todesschwinge [In der dritten Erweiterung „Cataclysm“, Anmerkung der Redaktion], der im wahrsten Sinne des Wortes die ganze Welt zerstören wollte! Wie willst du von das aus weiter machen, ohne dass die Spieler irgendwann sagen: ‚Okay, ernsthaft?‘ [lacht]. Deshalb dachten wir, dass es eine gute Zeit wäre, um einen Abenteuer-Ansatz zu wählen. Uns war dabei bewusst, dass „Mists of Pandaria“ thematisch riskant war, dass es sich nicht unbedingt so „warcraftig“ wie die anderen Erweiterungen anfühlte.

Warum ausgerechnet Pandaren?

Während der BlizzCons fragen wir die Besuchern an den Spiel-Terminals, was sie gerne in WoW sehen würden. Und sieben Jahre lang lautete die Nummer-1-Antwort mit überwältigender Mehrheit: ‚Pandaren‘! Der Abstand zu allen anderen Nennungen war riesig, nichts kam auch nur ansatzweise an die Menge der Leute heran die sagten: ‚Wir wollen Pandaren im Spiel‘.

Du bist seit über zehn Jahren im WoW-Team, hast du immer noch Spaß daran? Oder reizt es mal etwas anderes zu machen?

Ich fange immer wieder an zu denken ‚Oh, vielleicht beginne ich nach dieser Erweiterung an einem ganz anderen Projekt zu arbeiten.‘ Und dann sammeln wir Ideen für die nächste Erweiterung und die begeistern mich total: ‚Okay, die Nächste noch und dann mache ich vielleicht was anderes‘ [lacht]. Ich habe niemals das Gefühl, dass meine Arbeit getan ist, es fühlt sich für mich an wie ‚Wir können dieses Spiel immer noch besser machen‘.

Dann auf die nächsten zehn Jahre! Ihr habt kein bestimmtes Jahr vorgesehen, in dem die Server runter gefahren werden?

Es gibt wirklich keinerlei Endphasen-Plan – wir geben Vollgas, bis wir gegen eine Wand knallen [lacht].

Weitere Informationen über die aktuelle WoW-Erweiterung gibt’s in unserem Test zu Warlords of Draenor

Infos zum Spiel

Titel: World of Warcraft – Warlords of Draenor
Genre: Online-Rollenspiel / Add-on
Publisher: Activision Blizzard
Hersteller: Blizzard Entertainment
Release-Termin: Im Handel
Preis: zirka 40 Euro (plus etwa 13 Euro Abo-Gebühr pro Monat)
Systeme: PC, Mac
USK-Freigabe: Ab 12 Jahren
Wertung: Sehr gut

Erschienen am 02. Dezember 2014 bei T-Online.