„This War of Mine“: Das traurigste Spiel des Jahres

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Das Computerspiel „This War of Mine“ zeigt den Krieg einzig aus der Opferperspektive. Das soll nicht unterhalten, sondern berühren.

Von Benedikt Plass-Fleßenkämper

Bruno hat vor Kriegsausbruch als Koch gearbeitet. Jetzt ist er tot. Er befand sich auf einem nächtlichen Streifzug durch die Häuserruinen der belagerten Stadt, wollte Nahrung und Medizin auftreiben, als ihn marodierende Banden überraschten und erschossen. Ein schwerer Schlag für seine Mitstreiter, die Ex-Reporterin Katia und Pavel, der früher Fußballspieler war.

Während der virtuelle Krieg im neuen Teil des Ego-Shooters Call of Duty laut und schrill wie eh und je tobt, mutet This War of Mine wie eine Rebellion gegen den Spielemainstream an. Es erscheint am 14. November im Handel und auf Steam für PC und Macs, später auch für Tablets und Smartphones. Es wird rund 20 US-Dollar kosten, ein Euro-Preis ist bislang nicht bekannt. Indie-Entwickler 11 bit studios hat ein Antikriegsspiel abgeliefert, das „absolut keinen Spaß machen soll“, wie Chefautor Pawel Miechowski im Gespräch mit der US-Webseite Kotaku sagte.

Denn hier müssen Spieler nicht die üblichen Feindbilder bekämpfen, sondern das Überleben von Zivilisten wie Bruno in einem Kriegsgebiet sichern. Das ist das einzige Ziel – es gibt keine Levels, keine Highscores. Auch im Gespräch mit ZEIT ONLINE sagt Miechowski, dass This War of Mine nicht unterhalten soll: „Wir glauben nicht, dass Spieler immer nur Entertainment wollen. Es ist an der Zeit zu erkennen, dass das Medium erwachsen genug ist, wichtige Themen zu behandeln.“ Die polnischen Entwickler sind nicht die ersten, die sich auf diese Weise der Thematik nähern. Ubisoft hat das schon mit Valiant Hearts – The Great War getan, das aber immerhin einige aufmunternde Minispiele beinhaltet.

This War of Mine basiert auf keinem spezifischen Kriegsszenario, orientiert sich aber an realen Konflikten. Vor allem die Auseinandersetzungen in Bosnien, im Irak sowie der Bürgerkrieg in Syrien hätten die Entwicklung beeinflusst, sagt Miechowski. Es seien aber auch Berichte aus dem Zweiten Weltkrieg eingeflossen, darunter Tagebücher von Juden im Warschauer Ghetto und Artikel über das belagerte Stalingrad.

Man habe sich zudem mit Einzelschicksalen wie dem an einer posttraumatischen Belastungsstörung leidenden US-Soldaten John befasst, der in einem Blog-Eintrag auf der Entwicklerwebseite von seiner Teilnahme an der Operation Phantom Fury in Falludscha berichtet. Größte Inspiration sei allerdings der Text One year in hell gewesen. Darin beschreibt ein namenloser Zivilist seinen Überlebenskampf in der bosnischen Kriegszone, erläutert die Wichtigkeit von Waffen, Medizin, Hygiene und den Vorteil einer größeren Gruppe.

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Das Indiespiel wirkt mit seinem minimalistischen Kohlestift-Look wie eine eine melancholische Variante der Sims; im Hintergrund sind elegische Musik, Hundegebell und aus der Ferne hallende Gewehrschüssen zu hören. Man blickt in ein mehrstöckiges, zerbombtes Gebäude, in dem sich eine Gruppe von drei Zivilisten verschanzt hat. Jeder Charakter hat spezielle Stärken: Katia verfügt über besonderes Verhandlungsgeschick, Pavel ist ein guter Läufer. Die Charaktere werden vor Spielstart vom Programm zufällig zusammengestellt. Startet man eine neue Partie, lernt man weitere Figuren mit jeweils eigener Biografie kennen.

Angst, das letzte Buch verbrennen zu müssen

Tag für Tag gilt es, Essen zu organisieren, Arzneimittel zu besorgen, Verletzungen zu verarzten. Eine kleine Erkältung oder eine scheinbar harmlose Wunde können ohne entsprechende Behandlung schnell lebensbedrohlich sein. Des Weiteren versucht man, die Bleibe des Trios wohnlich zu gestalten: Gefundene Objekte wie Nägel, Holzlatten oder Metall kann man beispielsweise zu Stühlen, Betten, Öfen oder Radios verarbeiten. Selbst eine Wasserfilteranlage und eine Destille zur Wodkaherstellung lassen sich mit den entsprechenden Teilen konstruieren.

This War of Mine folgt einer strikten Logik: Wer in einem Bett statt auf dem Fußboden schläft, erholt sich besser; mit einer Selfmade-Schaufel gräbt es sich im Schutt des baufälligen Unterschlupfs kräftesparender. Und Musik aus dem Radio oder Alkoholkonsum heben die Laune jener Figuren, die zu Depressionen neigen.

Wie es um Gemütslage und Gesundheitszustand der Charaktere bestellt ist, zeigt das Spiel anhand von Stichworten auf dem jeweiligen Porträt an: Bruno ist müde, Pavel hat immer noch Hunger, Katias letzte Nacht war schlaflos. Außerdem äußern sich die Figuren mit Texteinblendungen, teilen dem Spieler mit, wenn sie traurig sind, sich ärgern oder Angst davor haben, das letzte noch vorhandene Buch im Ofen verbrennen zu müssen.

Vorräte sind stets knapp. Deshalb müssen Spieler jede Nacht einen Charakter bestimmen und aussenden, damit er im Schutz der Dunkelheit in weiteren Gebäuden nach nützlichen Dingen sucht, während die Verbleibenden Wache halten oder schlafen. Das ist riskant, weil zum einen Plünderer das eigene, nun dezimierte Lager leichter überfallen können, und zum anderen in der Stadt überall Scharfschützen lauern.

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Der Tod ist endgültig

Auch andere Zivilisten und Soldaten hungern, benötigen Proviant und Ressourcen. Da kann es passieren, dass die eigene Spielfigur auf bewaffneten Widerstand stößt, wenn sie gerade einen scheinbar verlassenen Supermarkt inspiziert, den ein anderer für sich beansprucht. Hat man sich zuvor keine Waffe gebastelt und setzt sich zur Wehr, endet das schnell tödlich. Da 11 bit studios auf das Permadeath-Prinzip setzt, ist der Tod in This War of Mine endgültig. Für den Rest der Gruppe wird das Überleben dann natürlich noch schwieriger.

Konfrontationen sollten Spieler deshalb besser aus dem Weg gehen. Es sei denn, sie möchten Tauschgeschäfte durchführen. Immer wieder klopfen Personen an der Haustür, bieten Ware an, die man vielleicht gebrauchen kann. Dann tauscht man etwa Tabak gegen Lebensmittel, aus denen Bruno etwas Leckeres kochen kann. Oder Wodka gegen ein Buch, damit Katia wieder lesen darf.

Im Krieg begeht jeder Verbrechen

Wer braucht was und wo bekomme ich es her? Das sind die zentralen Fragen, um die sich alles dreht. Spielerisch ist das klug gelöst, inhaltlich durchaus komplex und dank der einfachen Steuerung angenehm zugänglich. Dass einen das Kriegsspiel auch emotional packt, liegt an seiner ethischen Komponente. „Es geht darum, Entscheidungen zu treffen, sich selbst zu hinterfragen, was man alles tun würde, um in einem Krieg zu überleben“, sagt Miechowski.

Fast jeder neue Tag in This War of Mine hält ein moralisches Dilemma bereit: Stiehlt man einem alten Ehepaar die letzten Nahrungsvorräte, damit das eigene Team endlich wieder etwas auf den Teller bekommt? Nimmt man einen bettelnden Mann in die Gruppe auf oder weist ihn ab, da man sonst ein Maul mehr zu stopfen hätte? Schaut man gar tatenlos zu, wie ein betrunkener Soldat einer Frau Gewalt androht, oder hilft man ihr, riskiert dabei aber den eigenen Tod?

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Schafft ein Spieler es, seine Gruppe durch gut acht bis zwölf Stunden Spielzeit zu führen, was 25 bis 40 Tagen im Spiel entspricht, ist der Krieg vorbei. Spaß hat man dabei keinen empfunden – und dennoch viel gelernt. Im Krieg gibt es kein Gut und Böse, kein Richtig und Falsch. Nur Überleben.

Schon andere Computerspiele, allen voran die Grenzbeamten-Simulation Papers, Please, haben thematisiert, wie sich Menschen in Extremsituationen verhalten, wie sich Mitgefühl zugunsten des eigenen Vorteils in Unmenschlichkeit verwandeln kann. Doch This War of Mine ist kompromissloser, beschönigt nichts und liefert eine bittere Erkenntnis: Im Krieg begeht jeder Verbrechen. Das macht es zum traurigsten, aber womöglich auch wichtigsten Spiel des Jahres.

Erschienen am 10. November 2014 bei Zeit Online.