Videospiel „Call of Duty: Advanced Warfare“ im Test: Kevin Spacey im Größenwahn

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Schützenhilfe aus Hollywood, verstörender Blick in die Zukunft der Kriegsführung: Kann „Call of Duty: Advanced Warfare“ die Erfolgsformel seiner Vorgänger wiederholen? Wir haben den Shooter getestet.

Von Sönke Siemens und Benedikt Plass-Fleßenkämper

Kevin Spacey daddelt in seiner Rolle als Frank Underwood in „House of Cards“ nicht nur leidenschaftlich gerne Videospiele, sondern kommt nun erstmals selbst in einem vor. Im Ego-Shooter „Call of Duty: Advanced Warfare“ mimt er Jonathan Irons, seines Zeichens machthungriger Chef der ATLAS Corporation, einer der weltgrößten Privatarmeen der fiktiven Zukunft. Sie ist ihren Mitbewerbern, allen voran der US-Armee, technologisch um mindestens 20 Jahre voraus. Egal, ob holografische Trainingseinrichtungen, schwerbewaffnete Schwebepanzer, autonome Feldkampfdrohnen oder mechanische Exoskelette für ultimative Mobilität am Boden – ATLAS ist bestens gerüstet für die Kriege der Zukunft.

Wie die aussehen könnten, erlebt man schon in den ersten Spielminuten des Blockbuster-Shooters hautnah mit. In einer Art Blitzkrieg greift Nordkorea den Süden an und versucht Seoul zu überrennen. Die Schlacht scheint fast schon zugunsten des Aggressors entschieden, als der Bündnispartner USA aus der Stratosphäre mit sogenannten Drop-Pods einen letzten, verzweifelten Gegenschlag einleitet. In einer dieser Hightech-Landungskapseln sitzt US-Marine und Protagonist Jack Mitchells zusammen mit Will Irons – der Sohn von Jonathan Irons. Doch der Einsatz entwickelt sich zum Desaster…

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Emotionaler Einstieg

Nachdem man einen surrenden Drohnenschwarm abgewehrt hat, wird Wills Arm beim Sprengen einer feindlichen Flak-Einheit von einer massiven Hydrauliktür eingeklemmt. Mitchell steht direkt daneben, kann jedoch trotz kraftverstärkendem Exo-Anzug nichts tun. Die Bombe tickt, die Flak-Einheit hebt ab gen Himmel. Will fleht seinen Freund an, zu springen. Doch der weigert sich. „Es ist in Ordnung. Ich seh‘ dich auf der anderen Seite“, lauten Wills letzte Worte. Dann schubst er Mitchell in die Tiefe. Die Flak-Einheit zerbirst, Mitchell kracht zu Boden und wird von einem rasiermesserscharfen Trümmerteil am Arm getroffen. Eine bewegende Szene – und ein grandioser Auftakt für den nächsten Teil der Multimillionen-Dollar-Franchise „Call of Duty“!

Was folgt, ist ein erstes, behutsames Kennenlernen mit Kevin Spaceys virtuellem Alter Ego – zunächst ganz ohne Worte und sehr intim. Jonathan Irons verabschiedet sich auf einem Militärfriedhof von seinem verstorbenen Sohn. Er legt die Hand auf den Sarg und zieht traurig davon. Erst beim Verlassen der Anlage kommt es zum Plausch zwischen den beiden Hauptcharakteren; Irons verspricht Mitchell einen Neuanfang. Genauer gesagt: eine Hightech-Armprothese und einen Job bei ATLAS.

Ein Held, eine Mission

Die Story des neuen „Call of Duty“-Spiels, das drei Jahre Entwicklungszeit beansprucht hat, macht ihre Sache anfangs wirklich gut. Plausibel und ohne verwirrende Perspektivwechsel – wie in so manch vorherigem Serienableger – wird man in ein neues Zeitalter moderner Kriegsführung hineingesaugt, das auch optisch viel Eindruck schindet. Etwa als Irons den Spieler auf eine Spritztour durch den gigantischen ATLAS-Stützpunkt mitnimmt. In aller Ruhe darf man hier mit Thermo-Granaten, Fernsteuer-Drohnen und anderen Gadgets herumexperimentieren.

Sinn und Zweck der Übung ist es, sich auf den Kampf gegen die neue Geißel der Menschheit vorzubereiten: die KVA. Die Hightech-Terrorgruppe vereint den Fanatismus von IS mit der Brutalität mexikanischer Drogenkartelle und dem Technik-Knowhow der Hackergruppe Anonymous.

In den Augen ihres Anführers Hades ist vor allem die fortschreitende Technisierung der Gesellschaft die Wurzel allen Übels, weshalb er schon bald mit zeitgleichen Anschlägen auf Nuklearanlagen weltweit ein Exempel statuiert. Die Supermächte straucheln, Panik und Chaos übernehmen die Kontrolle. ATLAS-Boss Irons dagegen nutzt die Gunst der Stunde und lässt seine Truppe als selbstlosen Ritter auftreten, der gnadenlos KVA-Anhänger jagt und gleichzeitig humanitäre Hilfe anbietet.

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Verstörende Zukunftsvision

Sledgehammer Games, die Macher von „Call of Duty: Advanced Warfare“, spinnen dieses Szenario so weit, dass irgendwann ohne ATLAS scheinbar gar nichts mehr läuft. Welche Auswirkungen dies auf Irons Persönlichkeit und sein Handeln hat, fasst Spieldesigner Glen Schofield bereits im Vorfeld der Veröffentlichung treffend zusammen: „Wie heißt es doch so schön in einem Zitat von Abraham Lincoln? ‚Willst du den Charakter eines Menschen erkennen, gib ihm Macht.‘ Wir gaben Irons Macht – und es veränderte ihn radikal.“

Und wahrlich: Schauspielerisch transportiert Kevin Spacey Irons schleichenden Sinneswandel in den zahlreichen Zwischensequenzen hervorragend. Wohl auch, weil man mit der gleichen Motion-Capturing-Technik arbeitet, wie James Cameron für „Avatar 2“. Insbesondere Spaceys aufbrausende Rede vor dem Weltsicherheitsrat bleibt einem selbst Tage nach dem Durchspielen der knapp achtstündigen Kampagne noch in Erinnerung.

Für den Spieler resultieren diese Ereignisse serientypisch in rasant choreografierten Einsätzen rund um den Globus. Geiselbefreiung in der afrikanischen Millionenmetropole Lagos, Sturm auf einen besetzten Atomreaktor nahe Seattle, Lauschangriff auf mögliche Terrorpaten in einem Küstenstädtchen auf der griechischen Insel Santorini, Flucht im Schnellboot durch die Kanäle von New Bagdad, Gefahrengut-Bergung in den eisigen Breitengraden der Antarktis, Schwebepanzer-Action in einem bulgarischen Waldgebiet, Stellungskrieg auf einem Flugzeugträger in der Bucht von San Francisco – in der Mehrzahl der Fälle beweisen die Entwickler ein gutes Gespür für unverbrauchte Schauplätze.

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Des Kriegers neue Kleider

Bei der Spielmechanik schlägt man ebenfalls eine leicht veränderte Marschrichtung ein. Mittel zum Zweck sind die Exoskelett-Fähigkeiten der Spielfiguren. Sie ermöglichen auf Knopfdruck meterhohe Sprünge, blitzschnelles Ausweichen nach links und rechts, das Abbremsen eines Falls aus großer Höhe, das Erklimmen von Metallwänden oder den sogenannten Boost-Slam – eine verheerende Nahkampfattacke. Später kommen noch ein Enterhaken, eine „Mit der Umgebung verschmelzen“-Tarnfunktion, ein praktischer Umgebungsscanner (Ping) und eine Art Zeitlupen-Modus für besonders hektische Situationen hinzu. Dass Sledgehammer Games darüber hinaus – wenn auch nur zaghaft und an ausgewählten Stellen – die „Call of Duty“-typische Schlauchlevel-Architektur aufbricht, gefällt und sorgt zusammen mit der zusätzlichen Vertikalität im Leveldesign für zahlreiche Überraschungen und „Wow!“-Momente.

Leisetreter an die Front!

Besonders mitreißend: Ein Solo-Schleicheinsatz in Thailand. Dort bunkert Irons in einem riesigen Anwesen Informationen über ein Geheimprojekt namens „Manticore“. Im Gegensatz zu vielen anderen Passagen im Spiel gibt dieses Level einem praktisch keinen konkreten Weg vor. Wie man mit der patrouillierenden Drohnenarmada und den überall postierten Wachen klarkommt, ist jedem selbst überlassen. Lockt man seine Widersacher mit gezielten Pfiffen ins dichte Blattwerk, um sie dort mit einer Würgeattacke unschädlich zu machen? Nutzt man den vielseitigen Enterhaken, um sich unentdeckt von Dach zu Dach bis zum Zielpunkt vorzuarbeiten? In solchen Momenten fühlt sich „Call of Duty: Advanced Warfare“ fast schon wie „Thief“ oder „Deus Ex“ an, was überraschend gut funktioniert.

Packend auch die Mission, in welcher sich Mitchell – einem Großteil seiner Fähigkeiten beraubt – durch eine Biowaffen-Forschungsabteilung kämpft. Überall baumeln in durchsichtigen Plastikbeuteln versiegelte Leichen bizarrer Experimente, während immer neue Suchtrupps die Anlage stürmen. Da Mitchell eine Hand fehlt, ist Nachladen nicht möglich, was taktisches Umdenken verlangt und den Puls dauerhaft beschleunigt!

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Ballett der Schießbudenfiguren

Dass „Call of Duty: Advanced Warfare“ ganz in der Tradition der Serie regelmäßig auf übertriebene Effekthascherei und inszenatorischen Größenwahnsinn setzt, kann man dem Spiel verzeihen – das hier ist eben XXL-Action im Spieleformat, vergleichbar mit Kino-Blockbustern von Roland Emmerich („Independence Day“) oder Michael Bay („Transformers“).

Ein großes Problem hat der Shooter allerdings bei der Künstlichen Intelligenz: Für ein Next-Gen-Spiel dieser Größenordnung agieren die Gegner im Einzelspieler-Modus oft viel zu unglaubwürdig und unkoordiniert. Im Thailand-Level etwa zerrt der Held eine Wache ins Gebüsch, während dessen Patrouillepartner nur tatenlos zusieht und dann – als wäre nie etwas gewesen – wieder seiner Route folgt. Oder die typische Grabenkrieg-Situation: Statt den Spieler auch mal zu flankieren oder in die Enge zu treiben, ziehen die meisten Feindeinheiten es vor, hinter Deckungen zu verharren und in regelmäßigen Abständen den Kopf in die bleihaltige Luft zu strecken.

Kompensiert wird dieses Manko, wie so oft bei „Call of Duty“, durch eine schiere Masse leider nicht nicht wesentlich schlauer agierender Nachschubtruppen. Schade, denn dass die KI nicht ganz auf die Nase gefallen ist, zeigen die aggressiven Computerkrieger im fordernden kooperativen Mehrspieler-Modus „Exo Survival“.

Weitere Problempunkte der Kampagne sind kleine, aber störende Logik- und Detailfehler: Wie zum Beispiel kann es sein, dass eine startende Interkontinentalrakete nicht explodiert, obwohl sie sekundenlang aus nächster Nähe mit hochexplosiver, panzerbrechender Munition malträtiert wird? Wieso rennt man immer wieder in unsichtbare Wände, die erst verschwinden, wenn bestimmte Aktionen ausgelöst wurden? Warum nutzt das Studio in Render-Zwischensequenzen andere Figurenmodelle als in den sowieso schon brillanten Filmszenen, die direkt vom Spiel berechnet werden? Resultat: Zuweilen sind Action-Begeisterte irritiert oder fühlen sich herausgerissen aus der sonst so faszinierenden Illusion des interaktiven Popcorn-Kinos.

Starker Mehrspieler-Part

Nahezu fehlerlos präsentiert sich dafür der Mehrspieler-Komplex. 13 abwechslungsreiche Spielmodi, ebenso viele Kampfarenen, eine Wagenladung aufrüstbarer Waffen, Hunderte freispielbare Rüstungsteile und die pfeilschnelle Grafik mit ihren 60 Bildern pro Sekunde halten den Adrenalinspiegel der Onlinespieler auf konstant hohem Niveau.

Eine übersichtliche Begleit-App für Smartphones und Tablets hilft beim Organisieren von Clan-Wettkämpfen, und in der bereits erwähnten Vier-Spieler-Koop-Variante „Exo Survival“ ist perfektes Teamwork gefragt. Wer sich richtig reinkniet, schaltet sogar einen versteckten Zombie-Modus frei!

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Fazit: Spacey-Show mit Stolpersteinen

Die Geschichte von „Call of Duty: Advanced Warfare“ mag vorhersehbar sein und ihre spielerischen und inhaltlichen Ecken und Kanten haben, dennoch nimmt man auch diesmal den Finger erst vom Abzug, wenn der Abspann über die Mattscheibe scrollt. Dafür sind die Missionen dann doch zu abwechslungsreich, die präsentierten Technikgadgets zu cool. Und Kevin Spaceys Performance als vermeintlicher Weltverbesserer macht einfach zu neugierig.

Davon mal abgesehen: Streng genommen bleibt die Kampagne hier einmal mehr nur effektreiche Aufwärmübung für ein ausuferndes Mehrspieler-Spektakel, das gelungen an den Vorgänger anknüpft. Wer sich hier keine Action-Revolution erhofft, bekommt einen gut spielbaren und – in der auf Playstation 4 und Xbox One getesteten Version – toll aussehenden Shooter für sein Geld. Nicht mehr und nicht weniger.

Hersteller/Vertrieb: Sledgehammer Games / Activision
Genre: Ego-Shooter
Plattform: Xbox 360, Xbox One, Playstation 3, Playstation 4, PC
Preis: 55 Euro (PC), 65 Euro (PS3, Xbox 360, PS4, Xbox One)
Altersfreigabe: Ab 18 Jahren

Erschienen am 03. November 2014 bei stern.de.