„Minecraft“: Grenzgänger in der Spielwelt

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Ein Amerikaner läuft jahrelang durch „Minecraft“, nur um das Ende der Welt zu erreichen. Andere testen die Grenzen von „World of Warcraft“ aus. Was treibt sie an?

Von Benedikt Plass-Fleßenkämper

Die meisten Menschen spielen, um Spaß zu haben oder um sich zu entspannen. Es gibt aber auch professionelle eSportler, die um Preisgelder, Sponsorenverträge und Ehre spielen. Und es gibt Menschen, die sich am besten als Grenzgänger bezeichnen lassen: Sie entdecken geheime Levelbereiche, führen Spielmechaniken bewusst ad absurdum und probieren aus, was sonst niemand wagt.

Der 31-jährige US-Amerikaner mit dem Pseudonym Kurt J. Mac ist so ein Grenzgänger. Er gehört zu den mittlerweile über 100 Millionen Spielern des Erfolgstitels Minecraft. Seit dem 28. März 2011 läuft er mit seinem virtuellen Gefährten Wolfie durch die Klötzchenwelt, um nach 12.000 virtuellen Kilometern irgendwann die Far Lands zu erreichen. Diese beschrieb der Minecraft-Erfinder Markus „Notch“ Persson einst in seinem Blog – vereinfacht ausgedrückt – als das Ende der eigentlich unendlichen, weil zufällig generierten Spielumgebung.

Macs Motive für die Reise ans Ende der Minecraft-Welt sind Forscherdrang und Pioniergeist. Computerspiel-Universen seien in einer von Satelliten überwachten und bis ins letzte Detail aufgeschlüsselten Welt der letzte Zufluchtsort für Entdecker, die etwas komplett Neues enthüllen wollen, die auch mal „erster“ sein wollen, sagte Mac in einem Interview mit dem New Yorker.

Der Weg ist das Ziel

Der Weg an diese Orte ist lang. Von den 12.000 Kilometern hat Mac in drei Jahren erst etwas mehr als 700 zurückgelegt. Doch die Zeit ist es dem Minecraft-Enthusiasten, der seine Reise in bislang über 330 Youtube-Videos im „Let’s Play„-Stil dokumentiert hat, wert: „Meine Zuschauer und ich sind die einzigen Menschen, die diese Orte exakt so erleben, wie sie sind. Sobald wir sie passiert haben, werden wir sie niemals wieder sehen.“

Die Einnahmen aus seiner Videoserie spendet Mac der wohltätigen Organisation Child’s Play Charity. Dank seiner zahlreichen Unterstützer kamen in der aktuellen Kampagne bereits über 170.000 US-Dollar zusammen.

Allerdings wäre die Digital-Expedition im September 2011 fast frühzeitig geendet: Das Beta-Update 1.8 entfernte die Far Lands aus dem Spiel und veränderte die Generierung der Spielewelt. Mac umgeht dieses Problem, indem er bis auf Weiteres auf eine Aktualisierung von Minecraft verzichtet, wie er seinen Fans, die er liebevoll „Farlanders“ nennt, auf seiner Homepage mitteilt.

Ein Todesritter geht an seine Grenzen

Auch der 23-jährige Lou aus Paris lotet die Grenzen von Computerspielen aus. Der Student widmet sich in seiner Freizeit vor allem dem Online-RollenspielWorld of Warcraft. Als Mitglied einer europäischen Hardcore-Gilde spielt er mit seinen Kollegen um die sogenannten World Firstkills: Das Ziel der Spielergemeinschaft ist es, die schwersten Bosse aus World of Warcraft als erste zu töten. Das bedeutet für die Teilnehmer einen enormen Organisations- und Zeitaufwand, wie die Dokumentation Race to World First zeigt.

Doch der kollektive Erfolg reicht Lou nicht aus. Mit seinem Hauptcharakter, einem Todesritter, tut er Dinge, die den meisten Spielern von MMORPGs absurd vorkommen dürften: Er bekämpft im Alleingang Gegner, die eigentlich für Schlachten mit zehn bis 25 Teilnehmern konzipiert sind. Und er hat Erfolg: In seinem Youtube-Kanal zeigt er, wie er die oft zehn, 15 Minuten langen Duelle für sich entscheidet – nicht selten als erster Spieler überhaupt.

solokill

Exzellente Reflexe, die perfekte Beherrschung seines Spielcharakters und ein exaktes Wissen über die Fähigkeiten seines Gegenübers sind nötig, um die Künstliche Intelligenz zu bezwingen. Stundenlanges Ausprobieren sowie das Analysieren und Feilen an der Taktik gehören für Lou zum Spielalltag. Für seinen bislang härtesten Kampf gegen den „Lich King“ scheiterte er mehrere Tage lang immer wieder. Erst nach einer 16-Stunden-Nonstop-Session war er schließlich doch siegreich.

„Was wäre, wenn…“?

Für seine Taten erntet der Franzose in zahlreichen YouTube-Kommentaren Bewunderung. Seine Motivation ist aber eine andere, wie er im Gespräch mit ZEIT ONLINE sagt: „Mich treibt in erster Linie die Neugier an, wie weit ich die Spielmechanismen von World of Warcraft ausreizen kann. Ich habe es schon immer geliebt, mich in Computerspielen selbst herauszufordern. Über allem schwebt immer die Frage: Was wäre, wenn X? Sobald ich eine Idee habe, welches ‚X‘ mir wirklich etwas abverlangen könnte, probiere ich es aus – bis ich einen Bossgegner entweder getötet habe oder feststelle, dass er für mich nicht zu schaffen ist.“

Kurt J. Mac und der französische Todesritter sind nicht die einzigen Grenzgänger. Im Netz finden sich etliche weitere Beispiele, wie Gamer der Spielgrenzen und Spielmechaniken auf unterschiedlichste Art ausloten. Einige führen imposante Stunts im Online-Modus von Grand Theft Auto V aus. Wieder andere versuchen in sogenannten Speedruns möglichst schnell Spiele durchzuspielen.

Man stößt aber auch auf verstörende Resultate, etwa den perfekten Polizeistaat inSimCity 3000. Oder ein Haus im Rollenspiel Skyrim, in dem alle Bewohner wie von einem Serienmörder hingerichtet wurden. Letzteres nennt man dann wohl digitale Grenzüberschreitung.

Erschienen am 04. März 2014 bei Zeit Online.